M. Stuber u.a.: Hüeterbueb und Heitisträhl

Cover
Titel
Hüeterbueb und Heitisträhl.. Traditionelle Formen der Waldnutzung in der Schweiz 1800 bis 2000


Autor(en)
Stuber, Martin; Bürgi, Matthias
Reihe
Bristol-Schriftenreihe 30
Erschienen
Bern 2011: Haupt Verlag
Anzahl Seiten
302 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Ueli Haefeli

Das Pflücken von Heidelbeeren gehört bis heute zu den typischen traditionellen Formen der Waldnutzung in der Schweiz. Noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedeutete diese Art der Sammelwirtschaft eine wichtige Entlastung des Haushaltsbudgets von ärmeren Familien, vor allem in alpinen und voralpinen Regionen. Die Beeren dienten dabei nicht nur der Selbstversorgung, denn der Verkauf von Heidelbeeren konnte sich durchaus lohnen: 1933 beispielsweise verkauften in Innertkirchen rund 80 Sammler zusammen 7340 kg Beeren zu 90 Rappen. Ein einzelner Sammler konnte durchaus 5 –7 kg pro Tag pflücken, vor allem wenn der «Heitisträhl» zum Einsatz kam, was trotz Verboten eher die Regel als die Ausnahme war. Zum Vergleich: Ein Kilogramm Brot kostete damals etwa 50 Rappen, der Taglohn war also nicht zu verachten. Das Beerensammeln war meist harte, mitunter eine für die Versorgung notwendige, aber oft durchaus auch vergnügliche Kinder- und Frauenarbeit, je nachdem wie stark der ökonomische Druck auf den Familien lastete.

Es gehört zu den grossen Verdiensten der vorliegenden Publikation, die enorme Vielfalt der traditionellen Waldnutzungsformen (beispielsweise zur Futter- oder Streubeschaffung, zum Sammeln von Beeren und Pilzen sowie zur Gewinnung von Wirkstoffen, Brennstoffen oder Werkstoffen), gleichzeitig lebensnah und trotzdem äusserst souverän in den wissenschaftlichen Diskurs eingebettet, darzustellen. Dem Historiker Martin Stuber und dem Umweltnaturwissenschafter Matthias Bürgi gelingt dies in einer beispielhaften interdisziplinären Kooperation dank einer ausgewogenen Mischung von Interviews mit Zeitzeugen (Oral History) mit Befunden, welche sich aus schriftlichen Quellen und der Literatur ableiten lassen. Die beiden Autoren setzten sich zum Ziel, einen Beitrag zu Bewahrung des kulturellen Erbes zu leisten, zweitens die verschiedenen Formen der traditionellen Waldnutzung in Fallstudien zu dokumentieren und dadurch auch regionale Unterschiede deutlich zu machen sowie drittens die Bedeutung dieser Waldnutzungen im Kontext der ländlichen Ökonomie und Gesellschaft zu verstehen.

Der erste Teil des Buches enthält, basierend auf einer intensiven Literaturstudie, einen hervorragenden gesamtschweizerischen Überblick über die Vielfalt und Entwicklung der traditionellen Formen der Waldnutzung in der Schweiz von 1800 bis 1950. Der zweite Teil setzt sich aus fünf Fallstudien zusammen, welche sich vor allem auf insgesamt 56 Oral-History-Interviews abstützen, die zwischen Dezember 2006 und Juni 2009 durchgeführt worden waren. Ergänzend wurden aber jeweils die verfügbaren schriftlichen Quellen beigezogen, was die Einordnung der Aussagen aus den Interviews sehr erleichtert. Diese Gegenüberstellungen zeigen stellenweise Schwierigkeiten und Grenzen der Umsetzung damaliger Regulierungen seitens der Forstadministration auf (z.B. Forstpolizeigesetze, Bestimmungen in Waldwirtschaftsplänen). Für die Fallstudien wurde alpine und voralpine Gebiete ausgesucht, wo vorausgesetzt werden konnte, dass die traditionellen Formen der Waldnutzung noch bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus praktiziert wurden und wo also noch auf das Wissen von Zeitzeugen zurückgegriffen werden konnte: das Saanenland, die Vorderen Vispertäler, der Fankhausgraben, das Schächental und das Prättigau. Im Schlussteil synthetisieren die Autoren die empirischen Ergebnisse. Sie liefern eine wertvolle Klassifikation der Waldnutzungen nach den Kriterien Aktivität, Produkt und Verwendung. Die Autoren weisen darin insbesondere auf die grosse Bedeutung vieler traditioneller und weitgehend verschwundener Nutzungsarten für die Artenvielfalt in den Wäldern hin, welche beispielsweise die in der Vergangenheit so verpönte Waldweide oder Streunutzung heute in einem neuen Licht erscheinen lassen. Am Beispiel der Waldweide durch Ziegen lässt sich auch der grosse Zusatznutzen des Einbezugs der Innenperspektive durch die Interviews konkretisieren. Aus der Literatur wohlbekannt ist die vehemente Ablehnung der Ziegenwaldweide und überhaupt der etwas despektierlich als «Nebennutzungen» bezeichneten Formen der Waldnutzung durch die aufstrebende Forstwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts aufgrund der Unverträglichkeit von Waldweide und Waldverjüngung. Die Interviews geben dagegen ein viel differenzierteres Bild der Förster, welche sehr pragmatisch immer auch die Zwänge der örtlichen Ökonomie berücksichtigten. Daneben zeigt sich auch, dass die Erklärung für das weitgehende Verschwinden der traditionellen Waldnutzungen weniger die forstlichen Verbote als eher andere Faktoren wie die Ausdehnung der allgemeinen Schulpflicht und das aufgrund der verbesserten Verkehrserschliessung erleichterte Importieren von auswärtigem Futter sowie alternative Einkünfte aus dem Tourismus verantwortlich waren. Insgesamt gelingt den Autoren des gut lesbaren und sorgfältig lektorierten Buches damit ein herausragender Beitrag zur Wirtschafts-, Kultur- und Sozialgeschichte des Waldes und der ländlichen Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts, welcher durch liebevoll ausgewähltes Bildmaterial noch zusätzlich aufgewertet wird. Bezüglich der sozialen und ökonomischen Bedeutung der traditionellen Waldnutzung bleiben Fragen offen, beispielsweise hätte im Sinne einer Modellrechnung die Bedeutung der verschiedenen Waldnutzungsformen für das Budget ärmerer Haushalte quantifiziert werden können. Verständlicherweise nehmen in der Synthese die Zusammenhänge von traditionellen Waldnutzungen und Artenvielfalt mehr Platz ein als die Diskussion des Einflusses dieser Waldnutzungen auf die Waldentwicklung. Diese Formen der «Waldbewirtschaftung» werden richtigerweise als vermehrt zu berücksichtigende Parameter in den Waldökosystemmodellen der modernen Forstwissenschaften eingeführt. Vielleicht greifen die Autoren solche Fragen in ihrer weiteren Forschungstätigkeit auf. Interessant wäre natürlich die Ergänzung um Fallstudien aus dem Jurabogen und der Alpensüdseite.

Als CD enthält die Publikation zudem sechs eindrückliche Dokumentarfilme von Rahel Grunder, mit historischem und aktuellem Filmmaterial sowie Interviewausschnitten, welche das Thema einem breiteren Publikum auf gekonnte Art erschliessen und die sich insbesondere auch für den Einsatz im Unterricht anbieten.

Zitierweise:
Ueli Haefeli; David Walker: Rezension zu: Stuber, Martin; Bürgi, Matthias: Hüeterbueb und Heitisträhl. Traditionelle Formen der Waldnutzung in der Schweiz 1800 bis 2000. Mit Dokumentarfilmen zum Thema von Rahel Grunder. Bristol-Schriftenreihe Bd. 31. Bern: Haupt 2011. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 74 Nr. 2, 2012, S. 175-177.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 74 Nr. 2, 2012, S. 175-177.

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